Im Projekt KEG „Kommunale Entwicklung von Gesundheitsstrategien: Wissenschaft und Praxis im Dialog“ führten wir in Forschungsgemeinschaften zwei Fallstudien durch. Die erste Fallstudie war in Esslingen (Baden-Württemberg) angesiedelt, die andere in einem Stadtteil von Hamburg. In KEG konstituierten sich die Forschungsgemeinschaften als Wissenschaft-Praxis-Partnerschaften, um den Prozess von der Zielfindung bis zum konkreten Handeln gemeinsam zu gestalten und zu steuern. Den Dreh- und Angelpunkt der Forschungsgemeinschaften bildete die Wertehaltung, auf Augenhöhe Entscheidungen zu treffen und zusammenzuarbeiten.
Projektziele
Mit beiden Fallstudien wollten wir Erkenntnisse über die Zusammenarbeit und Anliegen in der Gesundheitsförderung auf Stadtteilebene gewinnen, um integrierte kommunale Gesundheitsstrategien (IKS) und Transferangebote zu entwickeln. Außerdem war es uns wichtig, die Partizipative Gesundheitsforschung im deutschen Sprachraum voranzubringen.
In einem zweiten Schritt setzten wir einen Schwerpunkt auf die Hamburger Fallstudie und wollten das in der ersten Förderphase entwickelte Beratungsinstrument Standortanalyse in das Beratungs- und Qualifizierungskonzept der Hamburger Koordinierungsstelle Gesundheitliche Chancengleichheit (KGC) integrieren. Konkret bedeutet das: Wir wollten die Standortanalyse in der Beratung von Hamburger Stadtteilen anwenden, evaluieren und praxisnah anpassen.
Fragestellungen
In der Esslinger Fallstudie fragten wir: Wie sehen jugendliche Bewohner*innen ihren Stadtteil und was brauchen sie, um sich dort gesund und wohl zu fühlen?
Wir erforschten gesundheitliche Anliegen und Interessen jugendlicher Bewohner*innen, um darauf basierend Maßnahmen und Aktionen zu realisieren.
Im Mittelpunkt der Hamburger Fallstudie stand ein Netzwerk, das sich 2012 zum Aufbau von IKS gegründet hatte, dann aber ins Stocken geraten war. Wie konnte das Netzwerk zum Aufbau von IKS wiederbelebt werden?
Dazu erforschten wir, was die Zusammenarbeit im Netzwerk förderte und welche Herausforderungen es gab.
Vorgehen, Methoden und Maßnahmen
In beiden Fallstudien bildeten wir Forschungsgemeinschaften, in denen alle Schritte des Forschungsprozesses ausgehandelt, geplant und umgesetzt wurden. In Esslingen waren unsere Partner*innen das Amt für Soziales, Integration und Sport der Stadt Esslingen sowie Akteur*innen und jugendliche Mitforschende aus dem Stadtteil. In Hamburg arbeiteten wir mit der Hamburgischen Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung e.V. (HAG) als Praxispartnerin zusammen. Wir kooperierten mit dem Bezirksamt Hamburg-Mitte, der Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz (seit 2020 Behörde für Arbeit, Gesundheit, Soziales, Familie und Integration (Sozialbehörde)) sowie Akteur*innen aus dem Stadtteil.
In der Esslinger Fallstudie schulten wir Jugendliche zu Mitforschenden. Sie erkundeten mit der partizipativen Methode Photovoice ihren Stadtteil und diskutierten die entstandenen Fotografien und Videos. Wir bereiteten die Gruppendiskussionen mit der Inhaltsanalyse auf. Gemeinsam mit den Jugendlichen validierten wir die Ergebnisse in Auswertungsworkshops und leiteten Handlungsbedarfe ab. Die Jugendlichen erarbeiteten gemeinsam mit der Forschungsgemeinschaft Lösungen. Wir konnten ein Budget für die Gesundheitsförderung akquirieren, sodass ein Teil der Maßnahmen und Angebote umgesetzt und die Integration der Ergebnisse in die Gesundheitsförderung eingeleitet werden konnte. Der erste Durchlauf dieser Projekte wurde durch die Hochschule Esslingen nach den Prinzipien partizipativer Evaluation evaluiert.
In der Hamburger Fallstudie qualifizierten wir die Mitglieder der Forschungsgemeinschaft sowie junge Bewohnerinnen des Stadtteils zu Mitforschenden. Die Forschenden setzten die partizipative Methode Appreciative Inquiry – AI ein, um wertschätzende, dialogbasierte Interviews mit Mitgliedern des Netzwerks sowie Bewohner*innen des Stadtteils zu führen. Die Interviewdaten wurden in einer partizipativen Auswertung analysiert. Auf Basis der Forschungsergebnisse und des Modells Community Readiness entstand die Standortanalyse als Beratungsinstrument zum Auf- und Ausbau von IKS. Bei der anschließenden Evaluation der Standortanalyse arbeiteten wir mit teilnehmenden Beobachtungen und leitfadengestützten Interviews. Die Daten wurden in der Forschungsgemeinschaft partizipativ ausgewertet. Die Ergebnisse unserer Evaluation stellen wir in unserer Wirkungsbeschreibung und in einem Fachartikel ausführlich dar.
Ergebnisse und Transfer in die Praxis
Ein wichtiges Ergebnis war die Standortanalyse als Beratungsinstrument für den Auf- und Ausbau von IKS. Für die Arbeit mit der Standortanalyse bietet die HAG auch nach Projektende Workshops für Fachkräfte aus der Praxis an, um das Instrument kennen und anwenden zu lernen.
Die Beratungssettings sind unterschiedlich. Sie können sowohl in Präsenz vor Ort im Stadtteil als auch im digitalen Format (über Videokonferenzen) stattfinden. Die Stärke der Standortanalyse ist der Schaffung eines Gesprächsraumes – unabhängig davon ob die Beratung im Präsenz oder Digitalformat stattfindet, ist es wichtig, die Kommunikation/das gemeinsame Gespräch in den Vordergrund zu stellen. Dafür haben die Projektpartner mit einer Kommunikationsagentur die Standortanalyse in ein digitales Beratungstool weiterentwickelt.
Die HAG führt Online-Workshops für interessierte Fachkräfte aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern durch. Die Teilnehmenden lernen die Grundlagen und Hintergründe des Instruments und das Online-Tool in seiner Funktionalität kennen. Die interaktiven Workshops ermöglichen den Teilnehmenden die Anwendungsmöglichkeiten des Tools für ihre konkreten Vorhaben zu reflektieren. Hier zeigen sich die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten der Standortanalyse: Neben Akteur:innen aus der Gesundheitsförderung sind auch andere Bereiche vertreten, z.B. Eingliederungshilfe, Quartiersmanagement, Senior:innen-Arbeit und Stadtentwicklung. Darüber hinaus finden auch „Inhouse-Schulungen“ statt: In spezifisch zugeschnittenen Veranstaltungen (inhouse-Modell) werden Akteur:innen eines bestimmten Arbeitsfeldes, einer spezifischen Region o.ä. im Einsatz des Instruments geschult. Die gemeinsame Schulung von Akteur:innen aus benachbarten Regionen oder den gleichen Arbeitsfeldern ermöglicht, Varianten der gegenseitigen Unterstützung in der Durchführung zu finden (z.B. die wechselseitige Entlastung in der Dokumentation). Das Online-Tool bietet hier den Vorteil, dass diese Unterstützung auch räumlich ungebunden stattfinden kann. Durchgeführt wurden diese Schulungen bisher mit Fachkräften der Gesundheitsförderung in Sachsen sowie mit Multiplikator:innen aus dem Bereich Gesundheitsförderung für Menschen mit Behinderung in Hamburg. (Quelle: Franz, Daniel und Franzen, Henrieke: Standortanalyse für den Auf- und Ausbau integrierte kommunaler Strategien – eine Zwischenbilanz). Nach der Teilnahme an den Einführungsworkshops können die Teilnehmenden das digitale Tool für ihre Beratungsprozesse selbständig nutzen.
An der Hochschule Esslingen wurde die Standortanalyse im Rahmen eines studentischen Projekts für das Setting Pflegeschule adaptiert. Unter Pflegeschulen werden berufsbildende Schulen verstanden, die Pflegefachpersonen ausbilden. Pflegeschulen bilden ideale Voraussetzungen für die Einführung von gesundheitsfördernden Projekten, sind bislang aber noch wenig berücksichtigt. Die adaptierte Version der Standortanalyse für Pflegeschulen (kurz: StaPs) wurde an zwei Standorten in Baden-Württemberg getestet und umgesetzt. Die Erkenntnisse und Erfahrungen sind in einer Publikation beschrieben (Wihofszky, Braun, Herrmann, Knas & Springer 2022).
Außerdem entstanden viele Produkte Artikel, Buchbeiträge, Workshops, Vorträge, Praxismaterialien sowie Filme zur Fallstudie in Esslingen und in Rothenburgsort und wir konnten vielfältige Aktionen und Veränderungen im Bereich Gesundheitsförderung in den Fallstudienstadtteilen erzielen, die wir auch in unserer Wirkungsbeschreibung darstellen.